"Ziele und Unterstützung für die Türkei"

Veröffentlicht am 15.10.2009 in Europa

Ismail Ertug

Brüssel/Oberpfalz. Der EU-Fortschrittsbericht der Türkei, vorgestellt von Erweiterungskommissar Oli Rehn, sorgt für hohe Wellen. Ismail Ertug (33), Europa-Abgeordneter (SPD) aus der Oberpfalz und Sohn von türkischen Einwanderern, kommentiert das "Kulturraum-Argument".

Was halten Sie von der Forderung, die Beitrittsverhandlungen auszusetzen und der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" anzubieten?
Die privilegierte Partnerschaft ist ein inhaltsleeres Schlagwort, das noch niemand mit konkretem Inhalt gefüllt hat. Bereits der jetzige Zustand könnte so beschrieben werden, denn die Türkei ist als Mitglied der Nato, der G 20 und der Zollunion eingebunden Allerdings hat sie dadurch mehr Pflichten als Rechte, beispielsweise im Handel mit Drittländern: Mexiko darf in die Türkei exportieren, die Türkei aber nicht nach Mexiko. Wer diesen Status Quo aufrecht erhalten möchte, will von der Türkei profitieren - sie aber nicht als Partner auf einer Augenhöhe einbinden. Das halte ich für falsch.

Als Argument führen die Vertreter der CDU/CSU und andere ins Feld, dass die Türkei nicht zum Kulturraum der Europäischen Union passe. Was halten Sie davon?
Die Kopenhager Kriterien definieren klar vier Hürden für den Beitritt eines Landes: wirtschaftliche Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Minderheitenschutz. Da ist die Türkei auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel, zweifellos. Doch ich bitte festzuhalten: Religion ist kein Kriterium, aus gutem Grund: ein Muslim kann genauso wenig oder sehr mit europäischen Werten übereinstimmen wie ein Christ.
In dieser leider oft sehr schwammigen Debatte sehe ich die christlichen Kirchen in der Pflicht: Sie sollten das klare Signal geben, dass das Argument der Religion von Populisten billig missbraucht wird.

Welche Stärken und Schwächen attestiert der Fortschrittsbericht der Türkei?
Die Türkei ist ein Stabilitätsfaktor in ihrer Region: Sie hat mit ihrer Null-Problem-Politik im Kaukasuskonflikt zwischen Georgien und Russland vermittelt, ist mit Armenien auf gutem Weg und sorgt für Ausgleich zwischen Israel und Syrien. Innenpolitisch hat sie sich weiter demokratisch geöffnet, zum Beispiel gegenüber der christlichen und kurdischen Minderheit. Dennoch ist noch einiges zu tun: Zu denken gibt mir die Pressefreiheit - eine saftige Geldbuße für die Dogan Media Holding soll mit einem Streit zwischen dem Inhaber und Ministerpräsident Erdogan zusammenhängen. Die Türkei braucht noch Zeit und ich bin dafür sie ihr zu geben.

Welche Auswirkung muss der Fortschrittsbericht auf die aktuellen Koalitionsverhandlungen in Berlin haben?
Ertug: Auf keinen Fall die, die sich Herr Seehofer vorstellt: Das Nein zum Türkeibeitritt im Koalitonsvertrag fest zu schreiben halte ich für falsch. Wenn von der Politik Signale gegeben werden, die Ressentiments schüren, ist das auf lange Sicht gefährlich und fahrlässig. Wir müssen der Türkei und den Türken in unserem Land Ziele aufzeigen und in ihren Bemühungen unterstützen. So, und wem das zu humanistisch ist, rufe ich das Sarkozy-Syndrom in Erinnerung: Wegen der ablehnenden Außenpolitik der Franzosen hat die Türkei Schnellzüge nicht in Frankreich eingekauft, sondern bei der spanischen Konkurrenz. Deutschland als Exportnation Nummer tut gut daran auch aus wirtschaftlichem Eigennutz seine traditionell guten Beziehungen zur Türkei pflegen.

 

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